Ein historisch-theologisches Referat zur Schuldfrage und ihrer Wirkungsgeschichte

đź§ Einleitung
Die Frage, ob „die Juden Jesus getötet haben“, ist eine der folgenreichsten in der Geschichte des Christentums. Über Jahrhunderte wurde sie als pauschale Schuldzuweisung formuliert – mit verheerenden Konsequenzen: religiöser Antisemitismus, Ausgrenzung, Gewalt und Pogrome.
Heute gilt in der wissenschaftlichen Theologie: Es gibt keine Kollektivschuld des jĂĽdischen Volkes am Tod Jesu.
Um diese Einsicht besser zu verstehen, analysiert dieses Referat die biblischen Grundlagen, die kirchliche Deutungsgeschichte und die moderne theologische Aufarbeitung.
đź§± 1. Biblische UrsprĂĽnge: Was sagen die Evangelien und Paulus?
đź“– Die Evangelien
Die vier Evangelien (Markus, Matthäus, Lukas und Johannes) schildern den Prozess gegen Jesus mit unterschiedlichen Akzenten:
- Jesus wird von jüdischen Führern angeklagt, aber die römischen Behörden (v. a. Pontius Pilatus) vollstrecken das Urteil.
- Besonders das Johannes-Evangelium verwendet mehrfach pauschale Ausdrücke wie „die Juden“, was später antijüdisch ausgelegt wurde.
- In Matthäus 27,25 steht die berüchtigte Aussage: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“
→ Diese Passage ist hoch umstritten und gilt heute als polemische Zuspitzung eines innerjüdischen Konflikts.
✒️ Paulus
Paulus, selbst Jude, äußert sich in seinen Briefen differenziert:
- In 1. Thessalonicher 2,14–15 scheint er Juden eine Mitschuld am Tod Jesu zu geben – diese Stelle ist jedoch umstritten und möglicherweise nicht authentisch.
- Im Römerbrief (Kapitel 9–11) betont er die bleibende Erwählung Israels:
„Gott hat sein Volk nicht verstoßen.“ → Paulus verurteilt nicht das jüdische Volk, sondern hofft auf eine zukünftige Einheit.
Fazit: Das Neue Testament enthält zwar scharfe Konfliktlinien, aber keine theologisch fundierte pauschale Schuldzuweisung an das gesamte jüdische Volk.
🕰️ 2. Kirchengeschichte: Wie wurde die Schuldfrage weitergetragen?
🏛️ Frühe Kirche
Viele Kirchenväter verschärften die antijüdischen Aussagen:
- Johannes Chrysostomos sprach von der „Synagoge des Satans“.
- Die Vorstellung vom „Gottesmord“ durch die Juden wurde zur festen theologisch-kulturellen Idee.
🕯️ Mittelalter
- Juden wurden pauschal als „Christusmörder“ gebrandmarkt.
- Diese Vorstellung fĂĽhrte zu Verfolgungen, Zwangsbekehrungen, Pogromen und Vertreibungen.
- Antijüdische Mythen (z. B. Ritualmordlegenden) breiteten sich aus.
📜 Reformation
- Martin Luther hoffte zunächst auf jüdische Bekehrungen.
- Später verfasste er 1543 das Pamphlet „Von den Juden und ihren Lügen“ – ein aggressiv antijüdischer Text, der später von Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde.
✝️ 3. Moderne theologische Aufarbeitung
✡️ Katholische Kirche – Nostra Aetate (1965)
Im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils erklärte die katholische Kirche unmissverständlich:
„Was in seinem Leiden nicht allen Juden zur Last gelegt werden kann, damals nicht und auch nicht heute.“
- Der „Gottesmord“-Vorwurf wurde offiziell zurückgewiesen.
- Das Judentum wird als Wurzel des Christentums geachtet.
- Der Dialog zwischen Juden und Christen wurde wieder aufgenommen.
✝️ Evangelische Kirchen
Auch viele evangelische Kirchen haben sich seit den 1980er Jahren klar positioniert:
- Ablehnung der Judenmission.
- Anerkennung des bleibenden Bundes Gottes mit Israel.
- Gedenken an die Mitschuld der Kirche an Antisemitismus und Shoah.
đź§ Fazit
Die pauschale Aussage „Die Juden haben Jesus getötet“ ist historisch unzutreffend, theologisch irreführend und ethisch unverantwortlich.
Jesus wurde unter römischer Herrschaft von bestimmten religiösen Autoritäten verfolgt, aber nicht von „den Juden“ als Volk. Die Verallgemeinerung dieser Schuld war eine Tragödie der Kirchengeschichte, deren Folgen bis ins 20. Jahrhundert reichen.
Heute steht fest:
Es gibt keine kollektive jĂĽdische Schuld an Jesu Tod.
Vielmehr sind Christentum und Judentum tief miteinander verbunden – historisch, religiös und geistlich.
📚 Literaturhinweise
- Bibel: Markus 14–15, Matthäus 27, Johannes 18–19, Römer 9–11
- Nostra Aetate (Vatikanisches Konzil II, 1965)
- Michael Schäfer: Jesus und die Juden – Geschichte eines Missverständnisses
- Peter von der Osten-Sacken: Christen und Juden – Eine Tragödie