Die Frage, wer Christus ist, nach den zwei Personen Christi, dem Nestorianismus und die Theotokos-Debatte – Ein evangelischer Blick auf eine alte Christologie

Die Frage, wer Christus ist, steht im Zentrum des christlichen Glaubens. Im 5. Jahrhundert entbrannte um diese Frage eine hitzige Debatte: Kann man Maria Theotokos – also Gottgebärerin – nennen? Oder bedeutet das, dass der ewige Gott leidet, stirbt und geboren wird, was doch unmöglich scheint? Diese Debatte führte zur Verurteilung des Nestorianismus – einer Lehre, die Christus so stark in zwei Naturen trennt, dass seine Einheit als Person in Frage steht. Aber was lehrt der Nestorianismus genau, und was können wir heute – insbesondere aus evangelischer Sicht – daraus lernen?

Was ist Nestorianismus?

Nestorianismus ist nach Nestorius benannt, einem Patriarchen von Konstantinopel, der um 430 n. Chr. öffentlich leugnete, dass Maria als „Gottgebärerin“ (Theotokos) bezeichnet werden sollte. Stattdessen bevorzugte er den Titel Christotokos („Christusträgerin“), um zu vermeiden, dass Gott als ein Wesen dargestellt wird, das geboren werden kann. Seine Lehre war stark von der antiochenischen Schule geprägt, die die Göttlichkeit und Menschlichkeit Christi scharf voneinander trennt.

Nestorius betonte so sehr die zwei Naturen Christi – göttlich und menschlich –, dass Kritiker ihm vorwarfen, Christus in zwei getrennte Personen zu zerreißen: einen menschlichen Jesus und einen göttlichen Logos.

Dabei wird meist nicht wahrgenommen, dass Nestorius lediglich eine Unterscheidung, keine Trennung der Naturen implizierte.[1]

Der Begriff der hypostatischen Union – also die unauflösliche Einheit der zwei Naturen in einer Person – wurde in dieser Debatte zum Prüfstein rechtgläubiger Christologie.

Die Reaktion der Alten Kirche

Die Konzilien von Ephesus (431) und Chalcedon (451) verurteilten Nestorius. Sie betonten, dass Jesus Christus eine Person in zwei Naturen ist – ganz Gott und ganz Mensch –, wobei diese beiden Naturen ungetrennt, unvermischt, ungeteilt und unveränderlich in einer Hypostase, einer Person, vereint sind.

Cyrill von Alexandrien war der große Gegenspieler von Nestorius. Er verteidigte, dass das Wort Gottes in Maria Fleisch angenommen hat. Wer Maria nicht Gottgebärerin nennt, so Cyrill, der leugnet letztlich, dass Gott selbst in Jesus zur Welt kam und in seiner menschlichen Natur gelitten hat – was für unsere Erlösung entscheidend ist.

Was sagt nun die Bibel?

Obwohl der Begriff Theotokos (Gott Gebärerin) nicht wörtlich in der Bibel vorkommt, finden sich viele biblische Aussagen, die seine Bedeutung stützen:

  • Lukas 1,43: Elisabeth nennt Maria „die Mutter meines Herrn“.
  • Matthäus 1,23: Jesus ist „Immanuel“, Gott mit uns.
  • Galater 4,4: Gott sandte seinen Sohn, „geboren von einer Frau“.
  • Johannes 1,14: „Das Wort wurde Fleisch“.
  • Apostelgeschichte 20,28 spricht vom „Blut Gottes“.

Diese Stellen machen deutlich: Der, der in Maria empfangen und geboren wurde, ist wahrer Gott. Deshalb kann man – ja, muss man – Maria Theotokos nennen, um die volle Göttlichkeit Christi zu bekennen.

Ein evangelischer Blick auf die Theotokos-Debatte (Maria als Gottgebärerin)

Die Reformatoren standen den altkirchlichen Konzilien mit Respekt, aber auch mit kritischer Prüfung gegenüber. Dennoch ist es erstaunlich, wie klar sie sich zur Einheit der Person Christi bekannten:

Martin Luther

Luther bekennt sich deutlich zur Theotokos. In seiner Auslegung des Magnificat (1521) schreibt er:

„Maria ist die Mutter Gottes, denn sie hat den geboren, der wahrhaftig Gott ist.“
Für Luther ist dieser Titel keine Marienverherrlichung, sondern ein Ausdruck des Christusglaubens: In Maria hat der ewige Gott Fleisch angenommen, und das ist Grund der Freude und des Glaubens.

Johannes Calvin

Calvin war zurückhaltender im Gebrauch des Begriffs Theotokos, aber theologisch stimmt er dem Konzept zu. In seinem Institutio schreibt er:

„Gott wurde im Fleisch geboren.“
Calvin betont, dass Christus eine Person sei, in der beide Naturen „so vereint sind, dass sie zusammenwirken für unser Heil“. Calvin verteidigt die hypostatische Union als zentral für die Erlösung.

Einige Theologen der Neuzeit schreiben zur Einheit der Person Christi

Karl Barth

Barth betont in seiner Kirchlichen Dogmatik die Einheit der Person Jesu Christi als das Zentrum der Offenbarung Gottes. Für Barth ist der Gottessohn nicht nur „in einem Menschen“, sondern selbst Mensch geworden. Er lehnt jede Trennung der göttlichen und menschlichen Natur ab.

„Jesus Christus ist der eine wahre Mensch und der eine wahre Gott – und zwar in einem.“

Dietrich Bonhoeffer

Bonhoeffer schreibt in Ethik und Widerstand und Ergebung, dass die Realität Gottes nur in Christus konkret erfahrbar sei. In Christus ist „Gott in der Welt“, „Gott für uns“. Seine Menschwerdung ist keine Idee, sondern eine geschichtliche Realität – im Stall von Bethlehem, am Kreuz von Golgatha.

Hans-Joachim Eckstein

Der evangelische Theologe Eckstein unterstreicht in seinen Schriften die biblische Begründung der Gottheit Jesu. In einer Vorlesung sagte er:

„Nicht Maria wird durch den Titel Theotokos erhöht, sondern Christus wird darin als der eine Herr bezeugt.“
Eckstein betont wie die alten Konzilien: Wer Maria nicht Gottgebärerin nennt, riskiert, die göttliche Identität Jesu zu relativieren.

Warum das heute noch wichtig ist

Die Theotokos-Debatte ist keine bloße Spitzfindigkeit historischer Theologie. Es geht um die Frage: Wer ist Jesus Christus? Nur wenn er wahrer Mensch und wahrer Gott ist – in einer Person vereint –, kann er Mittler zwischen Gott und Mensch sein. Nur dann ist sein Leiden heilbringend, seine Auferstehung siegreich, seine Gegenwart real.

Nestorius wollte Gott ehren, indem er ihn vor menschlichem Leiden „schützte“. Doch damit spaltete er Christus in zwei und raubte dem Evangelium seine Kraft. Das Konzil von Chalcedon, die Reformatoren und moderne Theologen wie Barth und Bonhoeffer bezeugen gemeinsam: In Jesus ist Gott selbst uns nahe gekommen – geboren, gekreuzigt und auferstanden.

Die Debatte über Theotokos zeigt: Glaube beginnt mit einem klaren Bekenntnis zu Christus. Wer war der, der in Bethlehem geboren wurde? Die Antwort der Kirche, der Schrift und der Reformatoren lautet gemeinsam: Es war der eine Herr Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch.

Maria Gottgebärerin zu nennen, heißt nicht, sie zu erhöhen – sondern Christus zu bekennen.

Weiterführende Lektüre:

  • Martin Luther, Auslegung des Magnificat
  • Johannes Calvin, Institutio Christianae Religionis
  • Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/2
  • Dietrich Bonhoeffer, Ethik
  • Hans-Joachim Eckstein, Jesus der Christus. Der Eine für alle
  • [1] Marlschies, Christoph: Nestorianismus, Betz, H. D. ; Browning, D. S. ; Janowski, B. ; Jüngel, E. (Hrsg.). Religion in Geschichte und Gegenwart, 6.

Diese Blogartikel basiert auf dem Blogartikel von Wyatt Graham -What Is Nestorianism? The Theotokos Debate Explained https://www.logos.com/grow/theotokos-nestorianism/. Er fasst diesen in einigen Punkten zusammen und ergänzt noch mit Stimmen der Reformation und der Neuzeit.


 

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