Vom Schweigen Gottes in der Bibel

Vom Schweigen Gottes in der Bibel
Über die Erfahrung der Stille Gottes in der Bibel und was sie im Glauben bedeuten kann

Hiob – Wenn Gott nicht antwortet

Hiob ist der Mensch der Bibel, der Gottes Schweigen am intensivsten durchleidet. In Hiob 23,8–9 schreit er: „Gehe ich nach Osten – er ist nicht da…“ Das Erleben der Gottesferne ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine existenzielle Wunde. Er ringt mit einem Gott, den er nicht versteht, nicht sieht, nicht hört. Und doch hält er fest – nicht an Antworten, sondern an Gott selbst. „Gott weiß, welchen Weg ich gehe. Prüfte er mich – ich ginge als Gold daraus hervor“ (Hiob 23,10). Hiobs Klage ist keine Gottesverneinung, sondern Gotteserwartung. Die Klage hält das Gespräch mit Gott offen – trotz allem.

Mose – Vierzig Jahre Stille

Nach seiner Flucht aus Ägypten lebt Mose vierzig Jahre in Midian – ohne hörbares Wort Gottes (2. Mose 2,15–3,1). Diese Stille ist kein Desinteresse Gottes, sondern Vorbereitung. „Die Abwesenheit Gottes ist eine Form seiner Nähe“, schreibt Thielicke. Mose wird nicht durch spektakuläre Offenbarungen, sondern durch langes Schweigen zu dem gemacht, der Israel führen kann. Gottes Schweigen ist kein Rückzug, sondern Verwandlung.

David – Klage als Glaube

David, der König der Psalmen, schreit seine Verzweiflung immer wieder heraus: „Wie lange verbirgst du dein Gesicht vor mir?“ (Psalm 13), „Mein Gott, ich rufe – doch du antwortest nicht.“ (Psalm 22). Doch wie bei Hiob ist die Klage selbst Ausdruck des Glaubens. Sie macht den Schmerz nicht stumm, sondern spricht ihn vor Gott aus. Klage und Vertrauen schließen sich nicht aus – sie gehören zusammen.

Josef – Der lange Weg zum Licht

Auch Josef erlebt Gottes Schweigen – und zwar in einer Weise, die oft übersehen wird. Von seinen Brüdern verraten, nach Ägypten verkauft, als Sklave missbraucht, zu Unrecht ins Gefängnis geworfen – Josef hört über viele Jahre nichts von Gott. Doch im Rückblick erkennt er: Dieses Schweigen war nicht Verlassenheit, sondern verborgene Führung. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen – aber Gott gedachte es gut zu machen“ (1. Mose 50,20). Wer im Schweigen Gottes vertraut, wird vielleicht erst Jahre später verstehen, dass Gott da war – und gehandelt hat.

Elia – Gott in der Stille

Nach dem Triumph am Karmel flieht Elia und wünscht sich den Tod (1. Kön 19). Gott begegnet ihm nicht im Sturm oder Feuer – sondern im leisen Säuseln. Die Stille Gottes ist nicht leer, sondern offenbart seine wahre Gegenwart. Elia lernt: Nicht immer ist Gott dort, wo es laut ist. Manchmal kommt er in der Stille.

Jesus – Das Schweigen am Kreuz

Jesus selbst ruft am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34). Der Sohn erfährt das Schweigen des Vaters – nicht als Zeichen von Getrenntheit, sondern als tiefstes Eintauchen in die Gottesferne des Menschen. Thielicke schreibt: „Jesus hat das Schweigen Gottes auf sich genommen.“ Das Kreuz wird zum Ort, wo das Schweigen endet – und neue Gemeinschaft beginnt.

Was sagen neuzeitliche Theologen dazu?

Auch in der neueren Theologie findet das Thema des Schweigens Gottes tiefe Resonanz. Helmut Thielicke, evangelischer Theologe und Prediger, schrieb in seinem Werk Das Schweigen Gottes (1962):

„Man darf Gott inmitten seines Schweigens getrost beim Wort nehmen.“

Für Thielicke ist das Schweigen Gottes kein Widerspruch zum Glauben, sondern eine Einladung zum Vertrauen – gerade dann, wenn alle äußeren Zeichen fehlen. Das Schweigen wird zur Prüfung, aber auch zur Klärung: Glaube um des Glaubens willen.

Auch Timothy Keller (Walking with God through Pain and Suffering, Dutton 2013) betont: „Gott gibt uns nicht immer, was wir wollen. Aber er gibt uns, was wir bräuchten, wenn wir wüssten, was er weiß.“ Für Keller ist das Schweigen Gottes nicht das Ende, sondern der Anfang einer tieferen Beziehung. Doch diese Einsicht ist nicht biblisch-theologisch zu verorten, sondern pastoral-spirituell.

Fazit – Gott beim Wort nehmen

Hiob steht im Zentrum des biblischen Ringens mit dem Schweigen Gottes. Die anderen Gestalten – Mose, David, Josef, Elia, Jesus – ergänzen sein Zeugnis. Gemeinsam zeigen sie: Der Glaube muss nicht immer sehen, hören, verstehen. Aber er darf halten, hoffen, klagen. Und in alledem gilt Thielickes Wort: „Man darf Gott inmitten seines Schweigens getrost beim Wort nehmen.“

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