Muss Kirche um die heutigen Menschen zu erreichen ihre Traditionen über Bord werfen?

So zumindestens kann ich es als Forderung in dem Buch von Erwin McManus „Eine unaufhaltsame Kraft“ im Vorwort herauslesen.
Dem muss ich widersprechen, denn ich halte sogar das Überbordwerfen von Traditionen für gefährlich. Aus meiner eigenen Erfahrung sehe ich, dass ich erst richtig im Heute wirken kann, wenn ich weiß, woher ich komme, was meine Gemeinde in Vergangenheit geprägt hat.Die Vergangenheit hat Einfluss auf das Heute und auch auf das Morgen. Traditionen verwurzeln. Eine traditionslose Gemeinde wird von den Strömungen der Gesellschaft auch schnell überspült. Das müssten eigentlich die Amerikaner besonders in ihrer relativ traditionsarmen Gesellschaft merken, die hauptsächlich Thanksgiving und den 4. Juni nur kennen (Vielleicht von mir etwas überzogen.)
Natürlich, stehen andererseits Traditionen auch im Widerspruch einer solchen multikulturellen Gesellschaft, wie Mosaic es ist. Doch bei uns sind die meisten Gemeinden (außer in den großen Ballungszentren) noch relativ monokulturell.
Der Vergleich der Kirche als Organismus ist ja ganz biblisch. Doch auch so ein Organismus steht in der Entwicklung und so in seiner eigenen Tradition. Auch der Organismus fragt nach dem Woher und dem Wohin.
Sicher ist es bei uns als Kirche, dass wir einen sehr intensiven Dialog zwischen Traditionen und moderner Kultur zu tun. Einerseits verhaftet im Vergangenem und andererseits offensein für Veränderungen im Heute auf die Zukunft hin. Sicher ein großer Spagat, aber nur so kann Anpassung und Veränderung wirklich zur Frucht führen. Ich glaube hier hinkt der Vergleich mit dem neuen Wein in Alten Schläuchen.
Ich entdecke immer mehr, dass die Menschen Riten brauchen, die teilweise ihren Ursprung in der Tradition bzw. Anti-Tradition haben. Wenn wir uns neue Gemeinden, die vor 10 Jahren gegründet wurden, entdecken wir, dass auch diese Riten haben und eine gewisse Tradition entwickeln. Schauen wir einmal unsere Konfirmation an. Schnell wurde im 20. Jahrhuntert als Anti-Tradition die Jugendweihe entwickelt, weil der Mensch, ob kirchlich oder nichtkirchlich, einen Ritus braucht, der die Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein symbolisiert.
Es ist klar, dass Tradition keine leere Hülle sein darf. Dann kann man sie wirklich abschneiden, wie einen alten Zopf. Ich denke emergentes Christentum entsteht aus dem Dialog zwischen Tradition und moderner Kultur. Es geht hier aber nicht nur um eine Renaissance des Alten, sondern um eine Entwicklung aus dem Alten heraus in die Zukunft.Und das führt zur Veränderung der Kirche, so dass sie auf die Menschen zugeht. Die Zunkunft wird es sicherlich bringen, dass es keine Einheitsgemeinde geben wird, wo in jeder Gemeinde der Gleiche Gottesdienst gefeiert wird. Die Gemeinde der Zukunft wird eine andere spirituelle Prägung haben als ihre Nachbargemeinde und trotzdem werden sie zur gleichen Kirche gehören. Damit meine ich, dass eine Gemeinde charismatisch geprägt ist, die nächste hochkirchlich, die dritte pietistisch, die vierte mehr sucherorientiert usw.. Erste Ansätze dazu gibt es ja schon.

Einerseits in Traditionen verwurzelt und anderseits für Veränderung offen, so können wir unsere Mitmenschen mit dem Evangelium erreichen.

1 Comment

  1. „Es geht hier aber nicht nur um eine Renaissance des Alten, sondern um eine Entwicklung aus dem Alten heraus in die Zukunft.“

    Der Satz gefällt mir.

    Ich mache ebenfalls die (vereinzelte) Beobachtung, dass manche Menschen – sogar junge Menschen – ganz bewusst das Ritual/die Zeremonie suchen. Diese Formen, z.T. noch in der Ev.LK vorhanden, viel stärker noch in Kath.Kirchen, sprechen einige Menschen mehr an, als das lockere „Wir feiern Gottesdienst, aber der soll ganz gemütlich und experimentell sein“.

    Aber es gibt halt auch die anderen, die das Flexible und Spontane sehr genießen.

    So ist es letztlich unser Zoll an den Individualismus, dass wir mit einer Tradition oder bestimmten Form nur eine bestimmte Menschensorte ansprechen.
    Das kann sehr relevant für Gemeindegründungen sein und evangelistische Projekte: Was suchen die Menschen in meiner Umgebung?
    Gib ihnen Traditionen, wenn sie das wollen. Hauptsache, Jesus ist der Inhalt.
    Aber auch: wir dürfen uns nicht verbiegen.
    Das ist wohl der Spagat.

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