Was Martin Luther zur Kirche mit vielen Gebäuden, aber wenigen Gläubigen sagen würde
Einleitung: Die Krise der Fülle

Unsere Kirche steht inmitten eines Widerspruchs: Sie ist reich an steinernen Zeugen der Vergangenheit – Kirchengebäude, Türme, Altäre, Orgeln – und zugleich arm an lebendiger Beteiligung. Viel Raum, wenig Leute. Viel Struktur, wenig Gemeinschaft. Was würde Martin Luther zu einer Kirche sagen, die „steinreich“ an Gebäuden, aber „arm“ an gelebter Gemeinde ist?
1. Was ist Kirche für Luther? – Keine Mauer, sondern eine Bewegung
Luthers Kirchenverständnis beginnt nicht beim Kirchengebäude, sondern beim Evangelium. Kirche ist kein Bauwerk, sondern die lebendige Gemeinschaft derer, die sich um das Wort Gottes versammeln.
Confessio Augustana VII (1530) – unter Luthers Zustimmung formuliert: „Die Kirche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden.“
Auch Luther selbst sagt: „Eine geistliche Stadt, eine Herberge des Glaubens, eine Schule des Heiligen Geistes.“ (WA 10/I, 2)
Die kirchliche Gemeinschaft gründet nicht auf Stein, sondern auf Wort. Ein Gebäude wird erst dann zur Kirche, wenn in ihm das Evangelium verkündigt wird und Menschen im Glauben zusammenkommen.
2. Was nützt ein Kirchenbau, wenn das Wort fehlt?
In den sogenannten Invokavitpredigten (1522) wandte sich Luther entschieden gegen eine äußerliche Reform ohne innere Erneuerung. Der Wert einer Kirche bemisst sich für ihn nicht an ihrer Baukunst, sondern an ihrer geistlichen Funktion:
WA 10/I, 7f.: „Was ist das für ein Haus, das ihr Gottes Haus nennt? […] Gottes Haus ist da, wo Gottes Wort ist.“
Und weiter: „Ein Bild oder Altar ist gut, wenn es dem Wort dient. Aber wehe, wenn das Wort fehlt – dann ist es Götzendienst.“ (WA 10/I, 12)
Kirchenbauten sind aus Luthers Sicht weder heilig noch überflüssig – sie sind Gebrauchsgüter des Evangeliums. Werden sie nicht gebraucht, verlieren sie ihren geistlichen Sinn.

3. Besitz verpflichtet – Kritik an totem Kirchengut
Luther spart nicht mit deutlicher Kritik am Kirchenbesitz, wenn dieser nicht dem Dienst am Evangelium dient. Schon 1520 ruft er im „Adelsschreiben“ zur Rückführung kirchlichen Reichtums in den Dienst der Gemeinde auf:
WA 6, 406: „Es ist eine Schande, dass das Gut der Christenheit nicht mehr dem gemeinen Mann, sondern der faulen Geistlichkeit dient.“
WA 6, 408: „Es ist nicht recht, dass das Gut der Christenheit verschwendet wird für äußeren Glanz. Es soll den Armen und der Gemeinde dienen.“
Besitz ohne geistliche Frucht ist für Luther unrechtmäßiger Besitz. Das hat heute große Aktualität: Gebäude, die mehr kosten als sie nützen, stehen im Widerspruch zu seinem Verständnis einer dienenden Kirche.
4. Wie beginnt Kirche neu? – Mit dem Wort, nicht mit der Wand
Für Luther ist der Aufbruch der Kirche nie an Bauprogramme gebunden. Es ist das Evangelium, das Menschen verändert, nicht die Infrastruktur.
Tischrede (WA TR 1, Nr. 87): „Ich habe das Wort gepredigt und bin mit Melanchthon Bier trinken gegangen. Das Wort hat mehr getan als ich.“
WA 6, 463: „Wo zwei oder drei in Christi Namen versammelt sind, da ist eine rechte Kirche.“
Ob fünf oder fünfhundert Menschen zusammenkommen – entscheidend ist, dass sie sich unter das Wort Gottes stellen. Hauskreise, kleine Andachtsgruppen, Bibelkreise: All das sind für Luther Ausprägungen echter Kirche. Familie und Hausgemeinschaft gelten ihm sogar als „kleine Kirche“ im Großen.
Großer Katechismus, zum 4. Gebot: „Wo fromme Hausväter sind, da ist die rechte Kirche.“
In der Vorrede zur Dt. Messe (1526, WA 19, 75, 3–8) weist Luther auf eine »dritte Weise« des Gottesdienstes derer hin, »die mit Ernst Christen sein wollen«. Sie sollen sich in Häusern zum Schriftstudium, zur Feier der Sakramente und zu Taten der Liebe versammeln.
HERBST, MICHAEL: Hauskirche/Hauskreise, BETZ, H. D. ; BROWNING, D. S. ; JANOWSKI, B. ; JÜNGEL, E. (Hrsg.). Religion in Geschichte und Gegenwart, 3.
5. Leitlinien für heute – Luthers Impulse für die Kirchenpraxis
Auf heutige Verhältnisse übertragen ergibt sich aus Luthers Schriften ein klarer Handlungsrahmen:
I. Kirche muss dienen – nicht besitzen
Kirchengebäude sind keine Selbstzwecke. Wenn sie nicht mehr der Verkündigung des Evangeliums oder dem Gemeinwohl dienen, sollen sie abgegeben, umgewidmet oder verkauft werden.
„Verkauft, was nicht dient – und baut, wo das Wort lebendig ist.“
II. Die Kirche darf nicht unter der Last ihrer Mauern ersticken
Luther würde sich entschieden gegen den Erhalt rein ästhetischer Gebäude wenden, wenn dort kein geistliches Leben mehr stattfindet. Er würde eine Verschlankung zugunsten lebendiger Zentren befürworten.
III. Reduktion zur Konzentration
Weniger Gebäude, aber stärkere Leuchtturmgemeinden: Mehrere Dörfer mit einer zentralen lebendigen Gemeinde sind aus lutherischer Sicht sinnvoll und legitim – solange das Evangelium den Mittelpunkt bildet.
IV. Umnutzung als geistlicher Dienst
Kirchenräume können neu gefüllt werden, wenn sie in den Dienst am Menschen treten:
- Wärmestuben im Winter
- Kulturkirche und Ausstellungen
- Bildungszentren
- Räume für Begegnung und Beratung
WA 6, 465: „Christen sollen sich nützlich machen mit ihrem Gut.“
V. Förderung kleiner geistlicher Gemeinschaften
Luther vertraut der Kraft des Evangeliums in der kleinen Form. Hauskreise, Pflegeheimandachten, Nachbarschaftsgebete – sie sind keine Notlösungen, sondern Ausdruck gelebter Kirche.
Luthers Vision einer erneuerten Kirche zielt nicht auf eine überinstitutionalisierte Form, sondern auf eine freiwillige, geistlich motivierte Versammlung von Christen, die sich um Wort, Sakrament und tätige Nächstenliebe sammeln. Besonders deutlich formuliert er das in der Vorrede zur Deutschen Messe (1526). Dort skizziert er, wie eine „rechte evangelische Ordnung“ aussehen könnte – jenseits öffentlicher Großgottesdienste:
„Die rechte Art der evangelischen Ordnung […] müsste nicht öffentlich auf dem Platz unter allerlei Volk geschehen, sondern diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen […] müssten sich mit Namen einzeichnen und irgendwo in einem Haus allein versammeln – zum Gebet, zum Lesen, zur Taufe, zum Sakrament und zu anderen christlichen Werken.“
(Deutsche Messe, WA 19, 75f., in hochdeutscher Übertragung)
Diese Form beschreibt nichts anderes als das, was wir heute Hauskreise, kleine Gottesdienstgruppen, Nachbarschaftsversammlungen oder Gemeinschaften im privaten Rahmen nennen würden. Luther geht sogar noch weiter: In einer solchen Gruppe könnte man kirchliche Zucht üben, gemeinsame Hilfe organisieren und geistlich wachsen – eine „Kirche im Kleinen“, die dem Neuen Testament nähersteht als manch großes Kirchengebäude.
Aber: Luther weiß auch um die Schwierigkeiten. In einem bemerkenswert ehrlichen Satz sagt er:
„Ich kann und darf noch keine solche Gemeinde oder Versammlung einrichten, denn ich habe dazu noch nicht die Menschen. Ich sehe auch nicht viele, die danach verlangen.“
Diese Aussage – „Ich habe dazu noch nicht die Menschen“ – ist die historische Wurzel unseres heutigen Dilemmas. Auch heute scheitert vieles nicht an Ideen oder Strukturen, sondern daran, dass Menschen mit geistlichem Ernst fehlen oder nicht zusammenfinden.
Und dennoch: Luther wäre bereit, diese Form zu fördern, sobald Gott „drängt“, und er verspricht:
„Kommt es aber so weit, dass ich es tun muss und aus gutem Gewissen nicht lassen kann, dann will ich mit ganzer Kraft dazu beitragen und helfen, so gut ich kann.“
Konsequenz für heute:
- Kleine geistliche Gemeinschaften sind keine Notlösung, sondern Teil von Luthers eigentlicher Idealvorstellung.
- Sie ermöglichen gelebte Gemeinschaft, geistliche Selbstverantwortung und ein Miteinander, das in der Großstruktur oft nicht mehr gelingt.
- Die Kirche heute kann – und muss – in ihnen ein Zukunftsmodell sehen: weniger formell, aber dafür umso verbindlicher, geistlicher und evangeliumsgemäßer.
Aus der Vorrede zur Deutschen Messe (1526) von Martin Luther.
Hochdeutsche Übersetzung:
Die dritte Weise jedoch, nämlich die rechte Form einer evangelischen Ordnung, sollte nicht öffentlich auf dem Platz vor aller Welt geschehen, sondern allein unter denen, die wirklich Christen sein wollen und das Evangelium mit Wort und Tat bekennen. Diese müssten sich namentlich kennzeichnen und sich an einem Haus versammeln – nur sie allein – zum Gebet, zum Lesen, zur Taufe, zum Empfang des Sakraments und zur Ausübung anderer christlicher Werke.
In einer solchen Ordnung könnte man erkennen, wer sich nicht christlich verhält, ihn ermahnen, bessern, ausschließen oder nach Christi Regel (Matthäus 18) unter den Bann stellen. Auch könnte man hier ein gemeinsames Almosen für die Christen festsetzen, das freiwillig gegeben und unter die Bedürftigen verteilt wird – nach dem Beispiel des Paulus in 2. Korinther 9.
Dazu bedürfte es keiner aufwändigen Gesänge. Man könnte eine einfache und klare Weise für Taufe und Sakrament einführen und alles auf Wort, Gebet und Liebe ausrichten. Man müsste dafür einen guten, kurzen Katechismus haben – über den Glauben, die Zehn Gebote und das Vaterunser.
Kurz gesagt: Wenn man die Menschen hätte, die mit Ernst Christen sein wollten, wäre diese Ordnung bald gemacht. Aber ich kann und darf noch keine solche Gemeinde oder Versammlung einrichten, denn ich habe dazu noch nicht die Menschen. Ich sehe auch nicht viele, die danach verlangen. Kommt es aber so weit, dass ich es tun muss und aus gutem Gewissen nicht lassen kann, dann will ich mit ganzer Kraft dazu beitragen und helfen, so gut ich kann.
Bis dahin will ich es bei den beiden genannten Formen belassen und öffentlich unter dem Volk einen solchen Gottesdienst fördern, um die Jugend zu üben und andere zum Glauben zu rufen und zu ermutigen – neben der Predigt –, bis sich die Christen, die es mit dem Wort Gottes ernst meinen, von selbst finden und zusammentun. Ich möchte nämlich nicht, dass daraus eine Rotte wird, wenn ich es aus meinem eigenen Kopf heraus ins Werk setzen wollte. Denn wir Deutschen sind ein wildes, ungestümes Volk, mit dem man nicht leicht etwas Neues anfangen kann – es sei denn, die höchste Not treibt es voran.
VI. Öffnung für neue Formen kirchlicher Präsenz
Luther war kein Bewahrer leerer Strukturen. Seine Frage war stets: Dient es dem Evangelium? Wenn ja – bewahren. Wenn nein – loslassen.
WA 12, 32: „Was dem Evangelium dient, ist recht. Was es hindert, ist zu verwerfen.“
6. Schluss: Was würde Luther tun?
Er würde fragen: „Dient euer Kirchenbesitz dem Wort Gottes? Dient er dem Menschen?“
Wenn nicht, dann: Loslassen. Umlenken. Neu anfangen.
Sein Maßstab wäre:
- Kein Gebäude um seiner selbst willen.
- Kein Besitz ohne Verkündigung.
- Kein Erhalt ohne Erneuerung.
In heutige Worte gefasst:
„Nicht Stein sollt ihr bauen, sondern Seelen.“ (paraphrasiert aus WA 6, 408)
Anhang: Wichtige Quellen aus Luthers Werk
Werk | Inhalt |
WA 10/I – Invokavitpredigten (1522) | Kirchenkritik, Wert geistlicher Erneuerung |
WA 6 – An den christlichen Adel (1520) | Kritik an Kirchengut, Berufung zur Erneuerung der Kirche durch alle Christen |
WA TR 1 – Tischreden | Kirchlicher Alltag, Kraft des Wortes |
Großer Katechismus (1529) | Familie als kleine Kirche, geistliche Verantwortung der Hausgemeinschaft |
Confessio Augustana VII (1530) | Kirchendefinition: Wort, Sakramente, Versammlung der Gläubigen |